Während man in Deutschland oft über Inklusion redet und bei deren Umsetzung zögerlich ist oder es gar zu Verweigerungshaltungen kommt, lebt man sie in Italien schon seit Jahrzehnten in vielen Bereichen der Gesellschaft in einer Selbstverständlichkeit, die ihresgleichen sucht. Dies durften Frau Albert, Frau Langbein, Frau Müller, Frau Palme und ich vom 15.-21.10.2023 in Turin, der größten Stadt Norditaliens und Verwaltungssitz der Region Piemont, erleben.
Im Rahmen des Ersamus+ Programms durchliefen wir ein Job-Shadowing, bei dem wir italienischem Fachpersonal bei der Arbeit über die Schulter schauen, daran teilhaben und gemeinsam Ansätze von Inklusion und weitere aktuelle pädagogische Herausforderungen und Anforderungen an die Bildungssysteme im sächsisch-italienischen Vergleich reflektieren und in englischer Sprache diskutieren konnten. Die Bandbreite der Institutionen, die wir dabei besuchten, reichte vom Inklusions-Kindergarten mit 90%igem Migrationsanteil über verschiedene Klassenstufen der Grund- und Mittelschule, einer berufsbildenden Schule bis hin zum Schulamt und dem lokalen Jugendamt. Auch eine private Stiftung, die seit 30 Jahren Inklusionshilfe leistet und ein eigenes Zentrum für Behindertensport aufgebaut hat, nahm uns für mehrere Stunden in Empfang und steckte uns mit ihrem Innovationsgeist und der Leidenschaft für ihre Sache an. Oft gab es im Austausch mit unseren Partnerorganisationen bewegende Momente, bei denen man das Gefühl hatte, dass alles genauso richtig ist, wie es ist und man sich dadurch nah und verbunden fühlt.
Zwei unserer Haupterkenntnisse waren: Ganz Italien hat dieselben Bildungsstandards – den Bildungsförderalismus, wie wir ihn in Deutschland kennen, gibt es nicht. Inklusion ist im Bildungssystem Italiens normal. Aus allem, was wir in Turin über das Bildungs- und Ausbildungssystem lernten und beobachten konnten, war für uns als sächsische Lehrer am beeindruckendsten, dass quasi alles inklusiv und teils auch multilingual läuft. Kein Mensch wird separiert, alle lernen zusammen in einer Gruppe oder Klasse mit der Unterstützung von geschulten Begleitungslehrern. So kann es sein, dass in einer Klasse von 20 bis 26 Schüler:innen auch mal 3-4 Fachkräfte eingesetzt sind – je nach Bedarf und Verfügbarkeit. Das ist natürlich sehr kostspielig und aufwendig, weil es dafür qualifiziertes Personal braucht, das auch nicht in unendlicher Anzahl zur Verfügung steht. Man macht sich in Italien auch nichts vor und lässt Menschen mit Handycaps in der Zeit lernen, die sie brauchen, dafür bekommen sie ggf. auch keinen gleichwertigen Abschluss, wenn sie definierte Standards nicht erreichen. Auch, wenn es in den Gruppen und Klassen durch die gelebte Inklusion manchmal etwas lauter und wilder zugeht: Das schönste ist, dass alle zusammen sind und sich keiner ausgegrenzt oder gar weggesperrt fühlt. Die Qualität dieses schönen Gefühls, das aus der praktischen Umsetzung des Inklusionsgedankens heraus entsteht, würde vermutlich über die Zeit auch in Deutschland einen großen Teil der Menschen näher zusammenrücken lassen. Lehrerinnen und Lehrer berichteten uns, dass Mobbing an den Schulen Italiens kein großes Problem darstelle und führen das hauptsächlich auf den Inklusionsansatz zurück, der dem gesamten Bildungs- und Ausbildungssystem Italiens immanent ist.
Während dieser sehr eindrucksreichen Woche begegneten uns ständig sehr offene, hilfsbereite und herzliche Menschen, von denen uns einige vielleicht auch einmal über das Erasmus+ Programm in unserer „Henriette“ besuchen werden – diese Wüsche wurden bereits etwa von Kolleginnen und Kollegen der berufsbildenden Schule Paolo Boselli geäußert ( https://www.istitutoboselli.it/ ). Wir würden uns sehr freuen, wenn ein erneutes Treffen – dieses Mal in Leipzig – zustande käme!
Mathias Conrad